Manchmal, wenn man die Nachrichten verfolgt oder bestimmte öffentliche Figuren beobachtet, fühlt man sich unwillkürlich an etwas erinnert. An Muster, Denkweisen, die man schon mal gehört oder gelesen hat – vielleicht in Geschichtsbüchern oder, wenn man sich mit Philosophie beschäftigt, in antiken Texten.
Heute möchte ich mit euch eine solche, auf den ersten Blick vielleicht überraschende, Parallele ziehen:
Die Verbindung zwischen Donald Trump und einem antiken griechischen Philosophen namens Thrasymachos.
Erstaunlich, dass die antiken Vorbilder mancher heutiger Akteure – die diese Vorbilder wahrscheinlich niemals studiert haben – wortwörtlich das propagieren, was heute wieder mit solcher Vehemenz vertreten wird.
Thrasymachos: Der antike Verfechter des „Rechts des Stärkeren“
Thrasymachos tritt prominent in Platons berühmtem Werk „Politeia“ (Der Staat) auf. Man könnte ihn als den „athenischen Trump“ bezeichnen, auch wenn das natürlich eine sehr freie Interpretation ist. Seine Thesen waren provokant und wurden schon damals kontrovers diskutiert. Selbst in modernen akademischen Kreisen findet er noch Beachtung, wie etwa der liberale Soziologe Ralf Dahrendorf ihn zitierte.
Was war Thrasymachos‘ Kernargument? Kurz gesagt, er erklärte, dass Ungerechtigkeit schlicht der Vorteil des Stärkeren ist.
Der Historiker Wilhelm Nestle fasst Thrasymachos‘ Position so zusammen:
- Jede Regierung macht Gesetze, die ihrer eigenen herrschenden Klasse nützen.
- Jeder Mann, der zu Großem fähig ist, sollte mehr Vorteile für sich beanspruchen, auch „im Widerspruch zum Recht“.
- Das Leben des Ungerechten sei besser und nützlicher als das des Gerechten.
- Traditionelle Gerechtigkeit sei nur „anständige Einfalt“, Ungerechtigkeit hingegen sei „Wohlberatenheit“ – also Klugheit oder strategisches Geschick.
- Die Stärkeren seien eben gerade dazu fähig, Unrecht im großen Stil zu begehen und ganze Gemeinschaften zu unterwerfen.
Für Thrasymachos ging es vom Politischen zum Allgemeinen: Weil die Politik zeigt, dass die Stärkeren ihre Interessen durchsetzen, schloss er daraus, dass das Leben des Ungerechten (der sich nimmt, was er will) dem des Gerechten (der sich an Regeln hält) überlegen ist.
Die Parallele: Von der antiken Machtphilosophie zum modernen „Trumpismus“
Klingt das bekannt? Das rücksichtslose Streben nach Vorteil, das Missachten etablierter Regeln und Normen, das Vertreten der eigenen Interessen über die des Gemeinwohls, die Verachtung von traditioneller „Gerechtigkeit“ als Naivität?
Viele Beobachter sehen genau diese Muster im Auftreten und Handeln von Donald Trump und seinen Anhängern. Auch hier scheint die Philosophie zu gelten: Der Stärkere (oder wer sich dafür hält) hat das Recht, sich durchzusetzen, die Regeln zu seinen Gunsten zu biegen und den maximalen Vorteil für sich herauszuschlagen.
Der entscheidende Unterschied: Die Legitimation
Und doch gibt es einen tiefgreifenden Unterschied zwischen Thrasymachos‘ Welt und unserer heutigen.
In der antiken griechischen Welt waren die Götter oft unberechenbar oder gleichgültig gegenüber dem menschlichen Treiben. Dies führte bei einigen Denkern zum antiken Atheismus oder zumindest zu einer Skepsis gegenüber göttlicher Ordnung als moralischer Grundlage. Thrasymachos‘ Recht des Stärkeren basierte eher auf einer pessimistischen Sicht der menschlichen Natur und der realen politischen Machtverhältnisse – einer Art Naturrecht des Stärkeren. Es war die faktische Gegebenheit, die seine Philosophie legitimierte.
Die modernen „Übermenschen“ wie Trump sind jedoch, und das ist die beunruhigende Wendung, oft keine Gottlosen. Im Gegenteil! Sie fühlen sich in ihrem Streben nach Macht und Vorteil zumeist von ihrem christlichen Gott unterstützt.
Hier sehen wir eine Verschiebung in der Legitimation:
- Thrasymachos: Das Recht des Stärkeren wird durch die natürliche Ordnung / die faktische Macht legitimiert.
- Trump (und ähnliche moderne Figuren): Das Recht des Stärkeren wird durch den Gedanken der göttlichen Auserwählung legitimiert.
Die Auserwählung ist in dieser modernen Lesart jedoch kein rein frommes Ereignis mehr. Sie ist oft direkt an den ökonomischen Erfolg gekoppelt. Früher wählte Gott die Seinen vielleicht durch ihre Frömmigkeit oder ihren Glauben aus. Heute scheint die Logik bei manchen so zu lauten: Wer ökonomisch erfolgreich ist, reich und mächtig wird, der ist auserwählt, der hat Gottes Segen, der hat das Recht, sich durchzusetzen.
Man könnte, etwas zugespitzt, sagen: Der Erfolg am Markt wird zum Gottesurteil.
Warum dieser Vergleich wichtig ist
Dieser Vergleich zwischen Thrasymachos und Trump ist nicht nur ein akademisches Spiel. Er zeigt uns, dass die Idee des „Rechts des Stärkeren“ ein uraltes Muster menschlichen Denkens und Handelns ist. Aber er zeigt auch, wie sich die Begründungen dafür wandeln und an die jeweilige Zeit anpassen – von einer vermeintlichen „natürlichen Ordnung“ zur göttlichen Auserwählung durch ökonomischen Erfolg.
Für uns heute bedeutet das:
- Muster erkennen: Wir können die Logik hinter bestimmten Handlungen und Rhetoriken besser verstehen, wenn wir ihre historischen und philosophischen Wurzeln kennen.
- Die Legitimation hinterfragen: Wir können uns fragen, wer beansprucht das Recht des Stärkeren und womit wird das heute begründet? Ist ökonomischer Erfolg wirklich ein Zeichen göttlicher Auserwählung oder moralischer Überlegenheit?
- Alternativen denken: Wenn wir die Logik des Stärkeren durchschauen, können wir uns bewusst für andere Prinzipien entscheiden: für Fairness, Gerechtigkeit, Kooperation – Werte, für die schon Platon gegen Thrasymachos argumentierte.
Philosophie hilft uns, diese Muster und Begründungen zu entlarven und uns bewusst zu positionieren. Sie ist das Werkzeug, um nicht blind den vermeintlich Starken zu folgen, sondern selbstbestimmt darüber nachzudenken, welche Art von Gesellschaft wir wollen und wie wir miteinander umgehen wollen.
Die Ideen von Thrasymachos sind also leider nicht nur in alten Büchern zu finden. Aber das Wissen darum gibt uns die Macht, sie in der Gegenwart zu erkennen und zu hinterfragen.