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Das einfache Leben? Warum uns der Überfluss krank macht

    Weniger ist mehr – klingt simpel, aber ist eine Grundkritik am Kapitalismus

    „Weniger ist mehr.“ Ein Satz, der uns immer häufiger begegnet. Wir sehen es im Trend zum Minimalismus, bei dem Menschen ihre Wohnungen von unnötigem Ballast befreien. Wir sehen es im Traum vom Tiny House. Dahinter steckt oft mehr als nur ein Modetrend: Es ist das wachsende Gefühl, im Überfluss der materiellen Dinge überfordert zu sein.

    Wir werden zugemüllt von einer Produktionsindustrie, die nur überleben kann, wenn sie immer mehr verkauft. Produkte werden mit Sollbruchstellen versehen, damit sie schneller kaputtgehen. Modetrends werden immer kurzlebiger. Die Qualität sinkt. Wir sind umgeben von Plastik, von Ramsch, von Dingen, die wir nicht brauchen und die uns leer zurücklassen.

    Es ist kein Wunder, dass man sich nach einem einfachen Leben sehnt. Aber woher kommt dieser zerstörerische Zwang zum Überfluss und zur Naturzerstörung?

    1. Die Entfremdung von der Natur: Mehr als nur eine ökonomische Frage.

    Karl Marx sprach davon, dass wir von unserer Arbeit entfremdet sind. Und doch blieb er ein Bewunderer der Maschinen. Die Natur sollte in den Hintergrund treten, damit die Maschinen alle unangenehme Arbeit der Menschen übernehmen und ihnen damit freie Zeit schenken sollten.

    Doch damit übersah er das wichtigste: die Entfremdung geht viel tiefer. Es geht nicht nur um „Wohlstand“. Es geht um unser Leben im Einklang mit der Natur. Wir sind Natur. Wenn wir die Natur zerstören, zerstören wir uns selbst. Dieses Gefühl, dass etwas fundamental aus dem Gleichgewicht geraten ist, spüren immer mehr Menschen.

    Aber warum tun wir das? Warum handeln wir so selbstzerstörerisch?

    2. Die religiöse Wurzel der Naturzerstörung: Eine selbsterfüllende Prophezeiung.

    Das größte Problem liegt in der Vermischung von Erlösungsglauben und unserem Verhältnis zur Natur. In der christlichen Tradition, die unsere Kultur tief geprägt hat, wird die Natur oft nicht als etwas Heiliges gesehen, das bewahrt werden muss (gerne wird von Schöpfungsbewahrung gesprochen).

    Im Gegenteil: Die „alte Welt“ – das ist die Natur – muss vergehen, damit eine neue, himmlische Welt entstehen kann. Unsere Natur ist die „gefallene Natur“, die nach dem Sündenfall verflucht wurde und in der wir zur Strafe leben und arbeiten müssen.

    Diese Denkweise führt zu einer fatalen Logik: Wir dürfen diese Welt gar nicht wirklich bewahren, denn sie ist ohnehin dem Untergang geweiht. Die Zerstörung der Natur wird so zur selbsterfüllenden Prophezeiung einer Erlösungsreligion, die das Glück nicht auf dieser Erde sucht.

    3. Das widersprüchliche Naturbild: Von Rousseau bis zum Neoliberalismus.

    Diese problematische Haltung zur Natur zieht sich durch die Philosophiegeschichte. Rousseau schrieb: „Alles ist gut, wie es aus den Händen des Schöpfers kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ Aber hier liegt ein Widerspruch: Der Mensch ist doch auch Natur. Warum sollte er plötzlich „schlecht“ sein?

    Spätere Denker wie Hegel versuchten, diesen Widerspruch aufzulösen, indem sie das Böse als notwendigen Motor zum Guten erklärten (die „List der Vernunft“). Diese Idee lebt bis heute fort: Der rücksichtslose Wettbewerb des neoliberalen Marktes führt angeblich am Ende zum Guten für alle.

    Dieses Denken findet seine Fortsetzung in einem verqueren Naturbild:

    • Im Nationalsozialismus wurde Natur mit „Rasse“ und „Heimat“ identifiziert. Das „Recht der auserwählten Rasse“, über andere zu herrschen.
    • Im Neoliberalismus wird das „Recht des Stärkeren“ als Naturgesetz verkauft. Die Auserwählten (die ökonomisch Erfolgreichen) sollen verdient herrschen.

    In beiden Fällen wird eine Mischung aus Glauben (Auserwählung) und einer pervertierten Idee von „Natur“ zur Rechtfertigung von Ungleichheit und Herrschaft genutzt.

    4. Die Flucht in die Technik: Wenn der Mensch sich selbst überwinden will.

    Die Konsequenz aus dieser Entfremdung von der Natur und dem Glauben an eine „gefallene Welt“ ist die Flucht in die Technik. Die Vision ist, die alte, „weibliche“ Natur zu überwinden und eine neue, saubere (cleane), technische Welt zu erschaffen, die ohne sie auskommt. Eine Welt, in der auch der Mensch durch die Mensch-Maschine ersetzt wird.

    Die entscheidende Frage zur KI lautet hier: Kann der menschliche Geist skaliert werden? Die Antwort ist nein. Eine Maschine kann nicht menschlich denken. Sie kann berechnen, sie kann Daten verarbeiten, sie kann Muster erkennen, die Menschen einprogrammiert haben. Aber sie kann nicht selbstständig denken, nicht fühlen, nicht verstehen, nicht urteilen.

    Die Geisteswissenschaften wurden lange als unterlegen angesehen, weil die menschliche Psyche nicht exakt berechenbar ist wie eine Maschine. Das ist ein Grundproblem unserer Zeit: Wir sehen die Nicht-Berechenbarkeit des Menschen als Nachteil, nicht als seinen größten Vorteil.

    5. Der Mensch bleibt unersetzbar.

    Der Mensch wird niemals durch eine Maschine ersetzbar sein. Warum? Weil wir Gefühle haben. Weil wir selbstständig denken können. Und weil wir andere Menschen brauchen, die uns wirklich verstehen und anerkennen – nicht nur unsere Daten analysieren, sondern unser Sein spüren.

    Die Sehnsucht nach dem „einfachen Leben“ ist mehr als nur ein Trend. Es ist ein Aufschrei unserer Psyche gegen die Entfremdung, gegen den Überfluss, gegen die Zerstörung. Es ist die Sehnsucht, wieder in Einklang zu kommen – mit uns selbst, miteinander und mit der Natur.

    Der Weg dorthin führt nicht über mehr Technik oder mehr Konsum. Er führt über das kritische, philosophische Denken. Indem wir die tiefen Wurzeln unserer Probleme erkennen – in Religion, in Wirtschaft, in unserem eigenen Denken –, können wir beginnen, uns davon zu befreien und einen Weg zu einem wirklich humanen, einfachen und erfüllten Leben zu finden.


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