Wir sehen es bei Politikern wie Trump oder Putin: Dieses unbedingte Streben, Sieger der Weltgeschichte zu sein, absolut und über allen anderen zu stehen. Ist das einfach nur Gier nach Macht? Oder steckt eine tiefere, gefährlichere Idee dahinter? Eine Idee, die uns bis in die Philosophie und die Geschichte unserer eigenen Kultur führt.
Diese Idee könnte man als den Kult des Genies bezeichnen – die Vorstellung, dass nur ganz wenige Menschen, von der Natur oder einer höheren Macht „auserwählt“, zu Großem fähig sind. Und dass sie vielleicht sogar amoralisch sein müssen, um die Weltgeschichte voranzutreiben.
Vom Genie-Kult zum Neoliberalen Ideal
Denker wie Goethe, Hegel oder Nietzsche waren Vertreter einer solchen „geniehaften Moral“. Für sie war das Genie der Motor der Geschichte, der das Gewöhnliche hinter sich lässt. Sie lehnten die Moral des Durchschnittsmenschen ab – die „kleinen Kammerdienermoralisten“, frei nach Hegel.
Hegel sah Figuren wie Napoleon als amoralische Kräfte, die den „Weltgeist“ vorantrieben. Und hier ziehen wir die direkte Linie zu heute: Ist das nicht die gleiche Logik, die dem Neoliberalismus zugrunde liegt? Die Vorstellung, dass superreiche, mächtige Einzelpersonen, die sich über gängige Moral hinwegsetzen („Amoral“ zeigen), letztlich den Fortschritt vorantreiben, von dem angeblich dann alle profitieren?
Nach dieser Sichtweise wird Gier zur Tugend erklärt, weil sie angeblich die Wirtschaft und damit die „Weltgeschichte“ als Fortschritt vorantreibt.
Die unbequeme Wahrheit: Viele Menschen, gerade in Deutschland, mögen ihre Klassiker nicht bewusst durchschauen, aber unbewusst folgen sie oft noch dieser Tradition. Sie fühlen, dass diese „großen Denker“ irgendwie keine Kritiker der heutigen neoliberalen Fortschritts- und Gier-Ideologie sind. Wenn die „Börsianer“ wüssten, dass selbst eine Figur wie Faust ihre Rastlosigkeit und ihren Willen zur Durchsetzung, koste es, was es wolle, nicht ablehnen würde, würden sie sich vielleicht tatsächlich wieder für „Bildung“ interessieren.
Die Verwirrung um Wahrheit: Genie vs. Wissenschaft
Die Idee des Genies beeinflusst auch unser Verständnis von Wahrheit. Wenn Trump (oder andere Populisten) die wissenschaftliche Wahrheit verachten, liegt das nicht nur an Ignoranz. Für jemanden, der sich als „Auserwählter“ versteht, ist die „wahre“ Wahrheit religiös oder mystisch – eine göttliche Offenbarung, die er angeblich gepachtet hat. Die irdische, rationale, wissenschaftliche Wahrheit ist dagegen zweitrangig, „Torheit vor Gott“.
Doch hier zeigt sich eine Verwirrung, die tief sitzt: Auch die technische Fortschrittsideologie, die ja eng mit dem Kapitalismus verbunden ist, wird oft unbewusst als „göttliche Wahrheit“ verstanden. Sie dient dem „gottgleichen“ Menschen, die Natur zu beherrschen und zu „vernichten“ (im Sinne der Ausbeutung) – und dient damit angeblich der „Heilsgeschichte“. So vermischen sich religiöse Auserwählung und technischer Fortschritt zu einer gefährlichen Logik.
Woher kommt der Genie-Kult? Griechenland vs. Deutschland
Hatten schon die Griechen diese Genie-Idee? Platon wollte, dass die Philosophen herrschen, weil sie die Weisheit besaßen. Da er ihre Fähigkeit zum Denken als Ergebnis ihrer „goldenen Natur“ sah, könnte man das als eine frühe Vorstellung von „natürlich Auserwählten“ sehen.
Aber schau dir dagegen Sokrates an! Er glaubte an die gleiche Fähigkeit zum Denken und zur Erkenntnis in jedem Menschen. Er sprach auf dem Marktplatz mit allen, sogar mit Sklaven, und entlarvte die Überheblichkeit der angeblichen „Genies“. Sein Ideal war die gleiche Fähigkeit zur Vernunft aller Menschen, die Basis für die Demokratie Athens.
Leider nahmen die Deutschen nicht Sokrates und die Demokraten Athens zum Vorbild. Nach kurzer Bewunderung für die Französische Revolution (Gleichheit, Freiheit, Brüderlichkeit) verteidigten sie schnell das „deutsche Untertanengemüt“ und verlegten die Größe ins Innere, in die Mythen, die Kunst, die Ästhetik.
Mit Bismarck kam die politische Macht, aber ohne humanistischen oder aufklärerischen Geist, ohne echtes Streben nach Demokratie. Hier entstand eine spezifisch deutsche Verbindung von Kunst und einer geniehaften Auserwählung durch die Natur. Die christliche Auserwählung wurde säkularisiert und auf eine vermeintliche biologische/natürliche Überlegenheit übertragen – das darwinistische „Recht des Stärkeren“, aber immer noch mit einem Funken göttlicher Vorhersehung.
Später gipfelte diese Entwicklung im Nationalsozialismus, wo die Verbindung von göttlicher/rassischer Auserwählung, Führer als Messias/Genie und „deutscher“ Kunst als Offenbarung besonders deutlich wurde. Kunst wurde zum Ausdruck des auserwählten deutschen Volkes.
Genie-Kult vs. Demokratie: Ein fundamentaler Widerspruch
Was passiert, wenn es nicht mehr um vernünftige Erkenntnis und kritisches Überprüfen geht (wie bei Sokrates), sondern um reines Gefühl („Einfühlen“) und die Verehrung des „Genies“? Das Objektive wird subjektiv, das Rationale irrational, das Allgemeine relativ.
Dies führt weg von der humanistischen Idee der Menschheit, die alle Menschen als gleichwertig betrachtet. Es führt weg von der Demokratie. Das Genie ist der Gegenbegriff zu einer kosmopolitischen, internationalen, verbindenden Idee der Gleichheit aller Menschen.
Logik und Vernunft sind die Grundlage für die Idee der allgemeinen Gleichheit aller Menschen – die gemeinsame Vernunft verbindet uns. Das Gegenteil – das Irrationale, die Idee der Auserwählung, der Genie-Kult – separiert und trennt uns, bildet Hierarchien und Herrschaftssysteme.
Die Konsequenzen von Ideen können nur auf Basis von Logik und rationalem Denken erkannt werden. Aber Faschisten wie Mussolini oder heutige Populisten, die auf Irrationalität und Ungleichheit setzen (wie Trump), ignorieren oder verachten diese Logik. Sie sind romantische Vertreter der Ungleichheit, getrieben von einem rastlosen Streben.
Dieses rastlose Streben des „Genies“ – ins Rauschen der Zeit stürzend, nie zufrieden – ist das, was wir heute im Neoliberalismus sehen: Rastlosigkeit statt Zufriedenheit, Getriebenheit statt menschlicher Ruhe. Das genaue Gegenteil dessen, was wir für ein gutes, erfülltes Leben brauchen.
Deine Rolle: Den Genius-Kult durchschauen
Es ist entscheidend, diesen Genie-Kult und seine Wurzeln zu verstehen. Er ist keine harmlose Bewunderung von Talent. Er ist eine Ideologie, die die Ungleichheit rechtfertigt, die Demokratie untergräbt und uns glauben lässt, dass wir einem „Auserwählten“ folgen müssen oder dass das System „gerecht“ ist, weil die „Starken“ gewinnen, ungeachtet von Glück oder Pech bei den Startchancen oder der eigentlichen Leistung (wie wir in unserem Artikel über Gerechtigkeit gesehen haben).
Wahre Bildung, echte Humanisten und kritische Geister müssen diese Strömung mitsamt ihren gefährlichen Vorläufern klar benennen und kritisieren. Das erfordert, die eigenen „großen Denker“ kritisch zu lesen und ihre problematischen Seiten zu erkennen.
Philosophie gibt uns die Werkzeuge dafür: die Vernunft, das kritische Hinterfragen, die Fähigkeit, historische Linien und widersprüchliche Ideen zu erkennen. Sie hilft uns, die Spiele, die mit dem Genie-Kult und der Auserwählung gespielt werden (auf politischer, ökonomischer und sogar persönlicher Ebene), zu durchschauen.
Wenn du bereit bist, hinter die Kulissen des Genie-Kults zu blicken und die gefährlichen Wurzeln ungleichen Denkens zu erkennen, dann bist du hier genau richtig. Lass uns gemeinsam lernen, die Idee der Gleichheit aller Menschen nicht nur als Gesetz, sondern als tiefen philosophischen Grundsatz zu verteidigen.