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Die Schul-Lotterie: Warum unser Bildungssystem ein Spiel der Ungleichheit spielt (und wie wir das ändern)

    Wir haben uns in den letzten Artikeln mit der gefährlichen Idee des Genie-Kults beschäftigt – der Vorstellung, dass nur wenige „auserwählt“ sind, zu Großem bestimmt. Und wir haben gesehen, wie diese Logik des Wenigen-zählen-mehr-als-die-Masse im Neoliberalismus und dem ökonomischen „Glücksspiel“ unserer Zeit weiterlebt.

    Jetzt kommt die unbequeme Frage: Was hat das mit unseren Kindern zu tun? Und mit den Orten, an denen sie einen Großteil ihrer Jugend verbringen: unseren Schulen?

    Schauen wir genau hin. Unser Schulsystem ist in seinem Kern ein System der Selektion. Es sortiert, es bewertet, es teilt ein. Schon früh wird entschieden: Wer kommt aufs Gymnasium? Wer auf die Realschule? Wer auf die Hauptschule? Später: Wer studiert? Wer macht eine Ausbildung? Und am Ende: Wer gehört zu den „Gewinnern“ der Gesellschaft, wer zu den „Verlierern“?

    Das Schulsystem als Bühne des Genie-Kults und der Auserwählung

    Diese Logik der Selektion spiegelt direkt die Denkweise des Genie-Kults wider: Nur wenige kommen ganz nach oben. Es gibt eine Spitze, die „Auserwählten“, die angeblich durch Leistung glänzen und die „Masse“ hinter sich lassen. Das Schulsystem ist die erste große Arena, in der dieses Spiel gespielt wird und die Regeln der Hierarchie und Trennung gelernt werden.

    Das System behauptet, diese Auswahl geschehe aufgrund von Leistung. Wer klüger ist, wer fleißiger ist, wer bessere Noten schreibt, kommt weiter. Fair, oder?

    Aber wir haben auch gesehen: Wenn unsere Gesellschaft im Grunde nach den Regeln eines Glücksspiels funktioniert – wo Herkunft, Zeit und Zufall oft entscheidender sind als reine Anstrengung – dann wird der Begriff „Leistung“ in diesem Kontext pervers. Dann hat das Ergebnis oft nur noch wenig mit echter, gleichermaßen möglicher Leistung zu tun.

    Und genau das entlarven auch viele Studien: Sie zeigen immer wieder, dass die Herkunft eines Kindes – in welche Familie es geboren wird, welchen Bildungshintergrund und welches Einkommen die Eltern haben – der größte einzelne Faktor dafür ist, ob ein Kind in Deutschland aufs Gymnasium kommt oder nicht. Viel entscheidender als die reine „Leistung“ oder Intelligenz.

    Das Schulsystem, das angeblich auf Leistung selektiert, sortiert in Wirklichkeit zu einem großen Teil nach sozialer Herkunft. Es reproduziert Ungleichheit, anstatt sie auszugleichen. Es wählt nicht die „Genies“ im Sinne intellektuellen Potenzials (das in jedem Kind stecken kann), sondern die „Auserwählten“ des gesellschaftlichen Glücksspiels.

    Die fatale Logik der Anpassung und Angst

    Ein solches System dient nicht primär dazu, das volle Potenzial jedes einzelnen Kindes zu entfalten oder alle zu mündigen, kritischen Bürgern zu machen. Stattdessen dient es dazu:

    1. Die Kinder frühzeitig an die Logik der Selektion und Konkurrenz zu gewöhnen.
    2. Sie für das kapitalistische „Glücksspiel“ unserer Wirtschaft zu trainieren, bei dem es um Gewinnen und Verlieren geht (und wo der eigene „Wert“ an Erfolg gekoppelt ist).
    3. Sie zu funktionierenden Rädchen im System zu machen, die ihren Platz in der Hierarchie kennen und akzeptieren.
    4. Ihnen Angst beizubringen: Angst vor schlechten Noten, Angst vor dem Versagen, Angst, nicht „gut genug“ zu sein – eine Angst, die sie gefügig macht und hindert, das System selbst zu hinterfragen. Wie wir es schon bei der „christlichen Erziehung“ gesehen haben, die auf Gehorsam statt auf Mut zum eigenen Denken setzte.

    Philosophen und Kritiker sehen hier eine Schule, die nicht dem Menschen dient, sondern einer Ideologie und einem Wirtschaftssystem. Eine Schule, die die Unterschiede zwischen den Kindern nutzt, um zu trennen und zu sortieren, anstatt sie als Vielfalt zu sehen und zu fördern.

    Eine humane und demokratische Alternative

    Aber wie könnte eine Schule aussehen, die nicht auf diesem gefährlichen Genie-Kult und der Logik des Glücksspiels basiert? Eine Schule, die wirklich allen Menschen dient?

    Eine humane und demokratische Schule wäre das Gegenteil unseres heutigen Systems:

    • Sie würde die Unterschiede der Kinder nicht für Selektion missbrauchen, sondern sie als Reichtum begreifen.
    • Sie würde das „Naturrecht der Schwachen“ (die Idee der gleichen Würde und des gleichen Rechts jedes Menschen, unabhängig von „Leistung“ oder Herkunft) als Grundlage nehmen, anstatt das „Naturrecht der Starken“.
    • Sie würde die Kinder als soziale Gemeinschaftswesen erziehen, deren Stärke im Miteinander, in der Solidarität liegt, nicht im Gegeneinander.
    • Sie würde kooperatives Handeln und gegenseitige Hilfe in den Vordergrund stellen, anstatt unbarmherzigen Wettbewerb.
    • Sie würde Neugier, kritisches Denken und Selbstbestimmung fördern (wie es Platon beim „Lernen als freies Spiel“ vorschwebte und wie wir es bei Sokrates als Grundlage der Demokratie sahen), anstatt Angst und Anpassung zu lehren.
    • Sie würde nicht nur einen engen „Leistungs“-Begriff nach ökonomischen Kriterien anerkennen, sondern die vielfältigen Talente und Beiträge jedes Kindes sehen und wertschätzen.

    Eine solche Schule würde nicht für die „Auserwählten“ selektieren, sondern jeden Einzelnen stark machen – für sich selbst und für die Gemeinschaft. Sie würde nicht auf selektiver Trennung und Hierarchie basieren, sondern auf Solidarität und gegenseitiger Unterstützung.

    Jeder will geben: Die natürliche Basis für eine humane Schule

    Die Idee einer solchen demokratischen Schule basiert auf einer tiefen menschlichen Einsicht: Jedes Kind, jeder Mensch, möchte von Natur aus der Gemeinschaft etwas geben. Wir haben einen inneren Antrieb, nützlich zu sein, beizutragen, gesehen und gebraucht zu werden. Humane Erziehung sollte genau diesen Antrieb stärken und jedem die Möglichkeit geben, seine einzigartigen Fähigkeiten zu entdecken und zu entwickeln – nicht, um andere auszustechen, sondern um der Gemeinschaft etwas zurückzugeben.

    Klar, diese Fähigkeiten sind nicht gleich. Jeder Mensch ist verschieden, mit unterschiedlichen Talenten und Neigungen. Eine Gesellschaft braucht genau diese Vielfalt, denn es gibt unzählige unterschiedliche Aufgaben, die erledigt werden müssen, damit das Ganze funktioniert – von der komplizierten Forschung über die Pflege von Menschen bis hin zur Organisation des Alltags und der Entsorgung unseres Mülls.

    Gleichwertigkeit statt Selektion: Eine Frage der Gerechtigkeit

    Hier liegt der Kern einer wirklich humanen Denkweise: Nur weil Fähigkeiten verschieden sind, sind die Menschen, die sie besitzen, nicht mehr oder weniger wert. Ein Physiker, der komplexe Theorien versteht, ist als Mensch nicht „besser“ oder „wichtiger“ als eine Krankenschwester, die Leben rettet und Leid lindert, oder der Mensch, der dafür sorgt, dass unsere Städte sauber bleiben.

    Das, was die Menschen mit ihren unterschiedlichen Fähigkeiten der Gemeinschaft geben, sollte gleichermaßen anerkannt und honoriert werden.

    Hier müssen wir unseren gängigen Leistungsbegriff komplett hinterfragen und verändern. Es kann nicht angehen, dass der Wert einer Tätigkeit fast nur an dem Geld gemessen wird, das man damit verdient. Eine Pflegekraft, die unendlich wertvolle Arbeit leistet, ist für das menschliche Zusammenleben oft viel wichtiger als ein Hedgefondsmanager, der aber ein Vielfaches verdient. Das ist ein krasses Beispiel für eine Ungerechtigkeit in der Verteilung von Wohlstand und Anerkennung, die direkt aus einem verzerrten Leistungs- und Werteverständnis im Kapitalismus resultiert.

    Eine wirklich demokratische Gesellschaft und eine ebensolche Schule müssten auf der Grundlage stehen, dass alle Menschen als Beitragsleistende für die Gemeinschaft gleichwertig sind, auch wenn ihre Beiträge unterschiedlich sind. Es geht nicht um die Selektion der „Besten“ für die Spitze einer Hierarchie, sondern um die Ermöglichung jedes Einzelnen, seinen Platz in einer solidarischen Gemeinschaft zu finden und gewertschätzt zu werden.

    Eine demokratische Schule würde diese Logik leben: Sie würde nicht selektieren, um eine Pyramide zu bauen, sondern fördern, um ein starkes, vielfältiges Netzwerk zu schaffen, in dem jeder Knotenpunkt wichtig ist und seinen Beitrag leistet.

    Der Weg nach vorn

    Die Kritik an unserem Schulsystem ist also keine reine „Bildungsdebatte“. Sie ist eine zutiefst philosophische und politische Frage. Es geht darum, welche Werte unser Zusammenleben bestimmen sollen: Sollen wir eine Gesellschaft bauen, die auf den Regeln des Glücksspiels, der Auserwählung weniger und der Selektion basiert? Oder eine, die auf der gleichen Würde jedes Menschen, auf Solidarität und auf dem Potential jedes Einzelnen beruht?

    Ein humanes Schulsystem ist nicht nur ein schöner Gedanke. Es ist die notwendige Basis für eine wirklich humane und demokratische Gesellschaft. Es ist Zeit, die Logik des Genie-Kults und der Selektion in unseren Schulen zu erkennen, zu hinterfragen – und für eine Bildung einzutreten, die jeden Menschen stark macht und uns lehrt, nicht gegeneinander zu spielen, sondern miteinander eine bessere Welt zu gestalten.

    In meiner Akademie üben wir genau dieses kritische Hinterfragen. Wir lernen, die scheinbar selbstverständlichen Regeln und Systeme unserer Gesellschaft zu durchschauen – auch die in der Bildung. Denn nur wer versteht, kann wirklich frei entscheiden und sich für Veränderung einsetzen.

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