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Gibt es Werte, die IMMER gelten? Über Naturrecht, Historismus und warum das für dich wichtig ist

    Stell dir vor, es gäbe so etwas wie ein „eingebautes“ Recht in jedem Menschen. Ein Recht, das nicht von Gesetzen abhängt, die jemand mal beschlossen hat. Kein Recht, das sich ändert, je nachdem, wo du lebst oder wann du geboren wurdest. Sondern ein Recht, das einfach da ist, weil du ein Mensch bist. Eine Art Grundausstattung, die uns die „Natur“ mitgibt.

    Klingt fast zu schön, um wahr zu sein, oder? Genau das ist die Idee des Naturrechts.

    Naturrecht: Eine alte Idee mit starker Wirkung

    Die Idee vom Naturrecht ist uralt. Sie wurde schon von den alten Griechen entwickelt, von Denkern wie Sokrates, Platon und Aristoteles. Später griffen die römischen Stoiker diesen Gedanken auf und verbreiteten ihn.

    Was meinten sie damit? Sie sagten: Neben den Regeln, die wir Menschen uns ausdenken und vereinbaren (dem „gesetzten“ Recht oder Konventionen), gibt es ein höheres Recht, das in der Natur selbst begründet ist.

    Dieses Naturrecht gilt für alle Menschen, immer und überall. Es ist universell. Warum? Weil es auf unserer gemeinsamen menschlichen Natur basiert. Die Stoiker glaubten sogar, dass alle Menschen eine gemeinsame Vernunft besitzen, die Teil der Vernunft ist, die den ganzen Kosmos ordnet.

    Weil wir alle diese Vernunft teilen, sind wir prinzipiell gleichwertig und haben grundlegende Rechte – einfach, weil wir Menschen sind. Man könnte sagen: Alle Menschen gehören zu einem gemeinsamen „Universum-Vaterland“ (κοινη πατρις).

    Wie Alfred Stern sagt: 

    „Diese universelle Menschenvernunft, diese ewige, unveränderliche Menschennatur, Trägerin unveräußerlicher Menschenrechte, ist wohl eines der edelsten Erbgüter, die die griechisch-römische Kultur der christlichen und der modernen Welt vermacht hat.“ 
    (Alfred Stern, Geschichtsphilosophie und Wertproblem)

    Die christliche Wendung: Naturrecht mit Bruchstellen

    Im Mittelalter versuchte Thomas von Aquin, das Naturrecht mit dem christlichen Glauben zu verbinden. Er nahm Ideen der Stoiker auf und fügte sie in sein theologisches System ein.

    Für Thomas von Aquin gab es drei Arten von Gesetz:

    • das göttliche Gesetz (das wir nicht ganz verstehen können)
    • das von der menschlichen Vernunft erkennbare Naturgesetz (lex naturalis), das für alle Naturwesen gilt
    • das von Menschen gemachte Gesetz (lex humana).

    Aber hier kommt der Bruch, der durch den christlichen Glauben entsteht: Thomas von Aquin teilte das Naturrecht in:

    • ein primäres Naturrecht (wie es im Paradies galt, als alle gleich waren) und
    • ein sekundäres Naturrecht (nach dem Sündenfall).

    Im Paradies, in der „paradiesischen Natur“, galt die griechische Idee der Gleichheit. Doch durch den Sündenfall wurde die Natur „gefallen“ (natura lapsa), und das Böse kam in die Welt. In dieser „gefallenen Natur“ sind die Menschen nun verschieden, ungleich, und dieser Zustand musste als von Gott gegeben akzeptiert werden.

    Das bedeutet: Was im Paradies „natürlich“ und gerecht war (Gleichheit), ist in der gefallenen Welt nicht mehr unbedingt das Maß aller Dinge. Das sekundäre Naturrecht lässt Raum für Ungleichheit und Anpassung an die Gegebenheiten nach dem Sündenfall – es steht im Gegensatz zum ursprünglichen Ideal des Primären Naturrechts.

    Die gefährliche Missdeutung: Naturrecht als „Recht des Stärkeren“ – Ein uralter Kampf

    Eine ganz andere Interpretation, die sich auf „Natur“ beruft, deutet Naturrecht als das Recht des Stärkeren. Die Beobachtung, dass in der biologischen Natur der Stärkere oft überlebt, wird hier fälschlicherweise zur moralischen oder politischen Regel erhoben: Was in der Natur ist, soll auch im menschlichen Miteinander sein und gelten dürfen.

    [Das ist ein Beispiel für den sogenannten Naturalistischen Fehlschluss: Nur weil etwas in der Natur ist oder passiert (Fakten, IST-Sätze, z.B. der Stärkere überlebt), heißt das noch lange nicht, dass es auch richtig ist oder so sein sollte (Werte, SOLL-Sätze, z.B. der Stärkere soll herrschen). Aus einem „Ist“ folgt nicht automatisch ein „Soll“.]

    Diese Sichtweise ist keineswegs neu. Sie wurde schon bei den alten Griechen formuliert, von Denkern wie Thrasymachos (an den erinnerst du dich vielleicht aus meinem Blogartikel: „Antike Vorbilder für moderne Machtgier? Von Thrasymachos zu Trump – das Recht des Stärkeren„) und anderen, die argumentierten, dass Gerechtigkeit nichts anderes sei als der Vorteil dessen, der sich durchsetzen kann.

    Die Entstehung der Demokratie in Griechenland war im Grunde genau dieser Kampf zwischen verschiedenen Interpretationen von „Naturrecht“ oder „gerechtem“ Anspruch. Auf der einen Seite standen die „Stärkeren“ – die Reichen, die Mächtigen, die Aristokratie –, die ihre traditionellen Privilegien und ihre Macht behalten wollten. Sie beanspruchten eine Art „Naturrecht der Starken“ oder ihr historisch gewachsenes Recht auf Vorherrschaft.

    Auf der anderen Seite standen die „Schwachen“ – die Ärmeren, die gewöhnlichen Bürger –, die gleiche Rechte für alle forderten. Sie beriefen sich implizit oder explizit auf eine Idee, die man als „Naturrecht der Schwachen“ bezeichnen könnte: das Recht, einfach als Mensch gleich zu zählen und an der Gestaltung der Gemeinschaft teilzuhaben, unabhängig von Herkunft oder Reichtum. Aus diesem Kampf, aus dieser Forderung nach Gleichheit der Bürger, wurde die Demokratie zum ersten Mal erfunden und etabliert.

    Heute spielt das  „Naturrecht der Starken“ – leider – eine bedeutende Rolle. Wir sehen es im Kapitalismus und Neoliberalismus, wo der freie, rücksichtslose Wettbewerb oft als „natürlich“ und einzig effizient dargestellt wird. Wir sehen es im globalen Wettbewerb zwischen Nationen und Unternehmen, wo die Durchsetzung eigener Interessen über das Gemeinwohl gestellt wird.

    Das „Naturrecht der Schwachen“ hingegen – die Idee der grundlegenden Gleichheit und der gleichen Rechte für alle Menschen – ist die Basis für Demokratie und Menschenrechte.

    Daraus folgt auch eine logische Konsequenz, die oft übersehen wird: Diese beiden Systeme – ein System, das auf dem „Recht des Stärkeren“ (Kapitalismus/Neoliberalismus/globaler Wettbewerb) basiert, und ein System, das auf dem „Naturrecht der Schwachen“, also der Gleichheit aller Bürger (Demokratie/Menschenrechte) basiert – passen im Grunde nicht zusammen. Sie stehen in einem grundlegenden Widerspruch zueinander. Und viele Spannungen in unserer heutigen Welt lassen sich aus diesem Konflikt erklären.

    Die große Frage & Kritik

    Das Naturrecht klingt erstmal gut, wenn es um universelle Werte geht. Aber eine zentrale Frage bleibt: Woher wissen wir eigentlich, was dieses objektive Naturrecht genau ist?

    Kritiker wie Stern sagen: Viele Philosophen haben im Grunde nur ihr eigenes, subjektives Gefühl davon, was fair oder richtig ist, genommen und es dann als allgemeingültiges „Naturrecht“ ausgegeben. Wie können wir sicher sein, dass wir wirklich die Natur oder die Vernunft „lesen“ und nicht nur unsere eigenen Vorlieben?

    Der Philosoph Popper meinte sogar, dass der Glaube an die Vernunft selbst vielleicht gar kein rein vernünftiger Akt ist, sondern ein Grundglaube, ein „irrationales Fundament“ für unser rationales Denken.

    Historismus: Alles ist relativ

    Ende des 18. Jahrhunderts entstand in Deutschland eine Denkrichtung, die eine ganz andere Antwort auf die Frage nach Werten und Wahrheit gab: der Historismus. Er war eine direkte Reaktion auf die Aufklärung, die stark an das universelle Naturrecht und die unveränderliche menschliche Vernunft glaubte.

    Der Historismus ist im Kern historischer Relativismus: Er sagt, dass Werte, Wahrheit, Recht und Moral nicht universell oder ewig sind. Sie sind relativ: sie ändern sich mit jeder geschichtlichen Epoche, jeder Kultur, jeder Nation.

    Für den Historismus gibt es keine übergeschichtliche, allgemeine Wahrheit oder Vernunft, mit der wir die Ideen oder Werte einer anderen Zeit oder Kultur beurteilen könnten. Alle historischen „Wahrheiten“ sind in ihrem Kontext gleichermaßen gültig und dürfen nicht einfach verglichen oder hierarchisiert werden.

    Während die Aufklärung die Gemeinsamkeiten aller Menschen betonte (die Vernunft, die universellen Rechte), legte der Historismus Wert auf das Besondere, Einzigartige jeder Epoche, jeder Kultur, jedes Volkes. Der Mensch ist ein einzigartiges Individuum („individuum est ineffabile“).

    Besonders die deutsche Romantik griff diese Ideen auf und betonte nicht die Vernunft, sondern den irrationalen Instinkt des einzelnen Volkes, den „Volksgeist“. Nicht Rationalität, sondern Gefühl und nationale Eigenart machen ein Volk aus und machen Völker einzigartig und potenziell unvereinbar.

    Die Folge für das Recht: Wenn alles relativ ist und jedes Volk seine einzigartige „Persönlichkeit“ hat, dann kann es auch kein allgemeingültiges Recht geben. Jede Nation hat ihr eigenes, historisch gewachsenes Recht, das nicht mit dem anderer Nationen verglichen oder von außen beurteilt werden kann (historische Rechtsschule).

    Warum diese alte Debatte heute noch brennend aktuell ist

    Die Spannung zwischen Naturrecht und Historismus (oder universalen Werten und Relativismus) prägt bis heute viele unserer wichtigsten Debatten:

    • Wenn wir über Menschenrechte sprechen, berufen wir uns im Grunde auf die Idee des Naturrechts: Es gibt Rechte, die jedem zustehen, einfach weil er Mensch ist – egal, wo er lebt, welche Kultur er hat oder welchem Gott er glaubt.
    • Wenn jemand sagt: „Das mögt ihr in eurer Kultur so sehen, aber bei uns ist das eben anders – das müsst ihr respektieren!“ – dann klingt das sehr nach Historismus oder Relativismus. Die Frage ist dann: Gibt es eine Grenze? Müssen wir alles tolerieren, was kulturell begründet wird, auch wenn es Grundrechte verletzt?
    • In Debatten über Moral, Gerechtigkeit, ja sogar über „Wahrheit“ (Fake News) – immer schwingt die Frage mit: Gibt es einen festen Maßstab (Naturrecht/Vernunft) oder ist alles Ansichtssache und kontextabhängig (Historismus/Relativismus)?

    Die Philosophie hilft uns, diese verschiedenen Denkweisen zu erkennen, ihre Wurzeln zu verstehen und zu sehen, welche Konsequenzen sie haben. Sie fordert uns auf, uns nicht einfach für das eine oder andere zu entscheiden, sondern kritisch zu fragen:

    Welche Werte sollen uns leiten? Gibt es Prinzipien, auf die wir uns gemeinsam verlassen können, auch wenn wir verschieden sind? Und wie können wir sicher sein, dass diese Prinzipien wirklich universell und human sind, und nicht nur unsere eigene „subjektive“ Sichtweise, die wir anderen aufzwingen wollen?

    Sich mit Naturrecht und Historismus auseinanderzusetzen, ist ein wichtiger Schritt, um die großen Debatten unserer Zeit besser zu verstehen und deine eigene Position darin zu finden.

    Daher lade ich dich herzlich ein, an meinen Kursen und Workshops teilzunehmen! Sie sind immer für Anfänger und Neugierige geeignet, die einfach Lust haben, sich mit diesen so wichtigen Fragen zu beschäftigen. Du musst keinerlei Vorwissen oder akademischen Hintergrund mitbringen. Nur Freude am Nachdenken 🙂

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