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Nicht für den Profit? Martha Nussbaums Plädoyer für Bildung – Eine kritische Betrachtung

    Eine Rezension des Buches „Nicht für den Profit! – Warum Demokratie Bildung braucht“ von Martha C. Nussbaum (TibiaPress-Verlag)

    Reden wir über Bildung. Nicht über das Stopfen von Wissen in Kinderköpfe, sondern über echte Bildung, die Menschen stark macht, die sie befähigt, in dieser komplexen Welt zu bestehen und sie vielleicht sogar besser zu machen. Das ist das Thema von Martha C. Nussbaum in ihrem Buch „Nicht für den Profit – ! – Warum Demokratie Bildung braucht“.

    Nussbaum ist eine renommierte Philosophin, und ihr Anliegen ist wichtig: Sie verteidigt die Geisteswissenschaften und eine humanistische Bildung in einer Zeit, in der alles nur noch nach ökonomischem Nutzen bewertet wird. Sie sieht, wie Universitäten und Schulen immer mehr zu Ausbildungsstätten für die Wirtschaft werden, während Philosophie, Kunst und kritisches Denken an den Rand gedrängt werden.

    Zurecht diagnostiziert die amerikanische Philosophin einen beunruhigenden Trend: Bildung wird zunehmend auf die Gewinnmaximierung der Wirtschaft ausgerichtet, während die Geisteswissenschaften – staatlich wie gesellschaftlich – an Bedeutung verlieren.

    Dieses Kernanliegen des Buches ist hochaktuell und von grundlegender Bedeutung. 

    Das ist der große Pluspunkt ihres Buches: Nussbaum kritisiert klar die Dominanz von Gewinnmaximierung, Technik und Marketing im Bildungsbereich. Sie fordert, dass Bildung mehr sein muss als nur die Vorbereitung auf den Arbeitsmarkt.

    In dieser Rezension möchte ich meine Eindrücke zu Nussbaums Argumentation darlegen und das Buch kritisch beleuchten. Ich werde dabei die von mir wahrgenommenen Stärken (PRO) des Buches herausarbeiten, aber auch die Aspekte hinterfragen (CONTRA), die mir problematisch erscheinen. Abschließend werde ich ein Fazit ziehen, wie ich das Werk in Bezug auf sein Anliegen und seine Stringenz bewerte.

    Die Sokratische Methode als Herzstück (PRO)

    Für Nussbaum ist die sokratische Methode das Herzstück sinnvoller Erziehung. Die Idee: Nicht einfach Wissen vermitteln, sondern zum Nachdenken anregen, Fragen stellen, Annahmen prüfen. Die sokratische Mäeutik – die „Hebammenkunst“ – beruht darauf, dass der Fragende wie eine Hebamme seinem Dialogpartner hilft, eigene Erkenntnisse zu entwickeln. Sokrates ging davon aus, dass jeder Mensch das Gute in sich trägt und es mit Hilfe der Vernunft herausarbeiten kann. Wenn er sich moralisch schlecht verhält, dann liegt das daran, dass Widersprüche und Irrtümer ihn falsch geführt haben.

    Wenn Lehrende also sokratisch vorgehen, dann übernehmen sie die Rolle einer Hebamme, die den Kindern dabei hilft, Erkenntnisse wie ihre eigenen Kinder zu „gebären“. Die Kinder lernen, selbstbestimmt zu denken und die Welt kritisch zu sehen.

    Weltoffenheit und Empathie

    Philosophie und Kunst sind es laut Nussbaum, die uns eine offene Sicht auf die Welt ermöglichen. Besonders wichtig ist ihr das Kennenlernen anderer Kulturen und Religionen und eine empathische Fähigkeit, andere Menschen emotional zu verstehen. Durch Debatten und das Einnehmen anderer Perspektiven sollen Kinder lernen, sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Sie bezieht sich dabei auf fortschrittliche pädagogische Modelle von Denkern wie Tagore, Dewey, Pestalozzi, Fröbel und Montessori.

    Lernen bedeutet nicht, Wissen passiv zu empfangen und sich autoritären Vorgaben unterzuordnen, sondern aktiv nachzufragen und eigene Einsichten zu gewinnen – im Sinne des kritischen Denkens.

    Diese Vorstellung von einer Bildung, die Mündigkeit, Empathie und globale Kompetenz fördert, ist inspirierend und als Gegenentwurf zur reinen Ökonomisierung der Bildung sehr wertvoll.

    Für die Stabilisierung der Demokratie

    Ein weiteres zentrales Argument Nussbaums, das ihr Plädoyer für die Geisteswissenschaften untermauert, ist die Bedeutung dieser humanistischen Erziehung für die Demokratie. Sie argumentiert eindringlich, dass eine Bildung, die kritisches Denken schult, die Fähigkeit zum Perspektivwechsel fördert und uns lehrt, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, essenziell für die Formung von verantwortungsvollen und aktiven Bürgerinnen und Bürgern ist.

    Eine solche Bildung zielt darauf ab, Menschen hervorzubringen, die nicht einfach blind Autoritäten folgen oder simple Parolen übernehmen, sondern die fähig sind, informierte Urteile zu fällen, sich in öffentliche Debatten einzubringen und die Grundlagen ihrer Gesellschaft kritisch zu prüfen. In Nussbaums Sicht ist diese Art der Erziehung unverzichtbar, um die Grundlagen einer lebendigen Demokratie zu stärken und zu erhalten. Sie will darauf hinaus, dass eine humanistische Bildung echte Demokraten hervorbringt.

    Grenzen der Analyse: Systemische Blindstellen und unbequeme Wahrheiten (CONTRA)

    Doch bei genauerer Lektüre zeigt das Werk, trotz seiner wichtigen Impulse, bestimmte Grenzen und enthält fundamentale Widersprüche, die eine kritische Betrachtung erfordern.

    1. Die Wirtschaft wird geschont: Nussbaum kritisiert zwar die Gewinnmaximierung in der Bildung, nennt aber das Wirtschaftssystem selbst – den Kapitalismus und Neoliberalismus – kaum beim Namen. Mehr noch: Sie argumentiert stellenweise, dass die von ihr favorisierte kritische, kreative Bildung letztlich auch den Unternehmen zugutekommen könne, indem sie innovationsfähige Arbeitskräfte hervorbringt. Ihre Pädagogik läuft damit Gefahr, unbewusst doch wieder dem System zu dienen, dessen Auswüchse sie eigentlich in der Bildung bekämpft.

      Im folgenden Zitat argumentiert Nussbaum, dass aufgeklärte und kritisch denkende Menschen nicht nur mit einer starken und florierenden Wirtschaft vereinbar sind, sondern ihr mit diesen Fähigkeiten sogar dienen. Also – dem kapitalistischen System, das meines Erachtens antidemokratisch ist und Menschen als funktionierende Arbeiter braucht, die gerade nichts kritisch hinterfragen.

      „Eine leistungsfähige Wirtschaft und eine dynamische Wirtschaftskultur liegen im Interesse einer jeden modernen Demokratie. Im Laufe meiner Ausführungen werde ich auch darlegen, dass dieses wirtschaftliche Interesse es erforderlich macht, sich der Geisteswissenschaften und Kunst zu bedienen, um ein Klima zu schaffen, in dem Leitungsfunktionen verantwortungsvoll und umsichtig wahrgenommen und kreative Innovationen geboren werden. Wenn dies geschieht, müssen wir uns nicht entscheiden zwischen einer gewinnorientierten Bildung und einer Bildung deren Ziel aufgeklärte Bürger sind. Eine florierende Wirtschaft erfordert die gleichen Fahigkeiten, die einen aufgeklärten Bürger ausmachen.“ (Hervorhebung von mir)

      Wenngleich klar ist, dass eine leistungsfähige Wirtschaftskultur fantasievolle und kritische Menschen braucht, so folgt daraus keineswegs, dass alle Menschen eines Landes diese Fähigkeiten besitzen müssen.“

    2. Naturzerstörung wird nicht angesprochen: Dieser Fokus auf Profitmaximierung ist im Übrigen nicht nur für die Bildung, sondern auch ursächlich für die Umweltzerstörung. Die Logik des endlosen Wachstums und der Ausbeutung von Ressourcen im Streben nach Gewinn ist eine direkte Konsequenz des Systems. Eine pädagogische Vision, die den Menschen als Teil der Natur begreift und zum verantwortlichen Umgang erzieht, müsste diesen Zusammenhang stärker benennen und kritisieren. Doch in ihrer Analyse betrachtet Nussbaum den Kapitalismus nicht als Ursache von Naturzerstörung. Eine humanistische kritische Erziehung wäre damit nicht vereinbar.

    3. Die fehlende Religionskritik: Nussbaum betont die Notwendigkeit, andere Kulturen und Religionen zu verstehen. Sie spricht von potenziellen „Kämpfen der Kulturen und Religionen“. Und deutet manchmal an, dass religiöser Fundamentalismus nicht mit der von ihr geforderten Erziehung zusammenpasst. Doch eine kritische Auseinandersetzung mit den Religionen selbst – insbesondere mit Dogmen, Autoritätsansprüchen und antidemokratischen Vorstellungen in Erlösungsreligionen (die wir in früheren Artikeln beleuchtet haben) – findet nicht statt. Sie spricht lediglich davon, dass man demütig sein soll gegenüber anderen Religionen und Kulturen.

      Ein kritisches, selbstbestimmtes Denken, wie es die sokratische Methode fordert, steht jedoch in fundamentalem Spannungsverhältnis zu Dogmen und Autoritätsansprüchen, die beanspruchen, die letztgültige Wahrheit bereits zu besitzen. Diese Inkompatibilität zwischen aufklärerisch-kritischem Denken und bestimmten religiösen Glaubensstrukturen, die für ein Verständnis globaler Konflikte und innerer Widersprüche des Menschen essenziell ist, bleibt ein blinder Fleck.

    Der gravierendste Widerspruch: Das Menschenbild am Scheideweg

    Der wohl gravierendste Widerspruch im Buch liegt jedoch in Nussbaums eigenem Menschenbild, das in deutlichem Kontrast zu der von ihr so hochgeschätzten sokratischen Grundlage steht.

    Nussbaum beschreibt Kinder nicht als von Natur aus zum Guten oder Vernünftigen geneigt. Stattdessen konstatiert sie ein problematisches Bild: Kinder seien kleine Narzissten, egoistisch, wollen ihre Eltern „versklaven“. Sie empfänden Scham und Schuld für ihre Körper und würden diese Gefühle durch Aggression und Hass kompensieren. Ja, sie seien zwar fähig zu Liebe und Empathie, aber diese positiven Eigenschaften müssten ihnen mühsam durch Erziehung beigebracht werden, quasi gegen ihre natürliche Tendenz.

    „Die Erwartung ständiger Fürsorge – die ‚kindliche Omnipotenz‘, die durch Freuds Ausdruck ‚Seine Majestät, der Säugling‘ gut erfasst wird – verbindet sich mit Angst und Scham darüber, dass man nicht omnipotent, sondern völlig machtlos ist.“

    „Säuglinge würden ihre Eltern gerne zu Sklaven machen, damit sie die Kräfte kontrollieren können, die sie mit allem Nötigen versorgen. In seiner bedeutenden Arbeit über Erziehung, dem Roman Emile, sah Jean-Jacques Rousseau in dem Wunsch der Kinder, ihre Eltern zu versklaven, den Beginn einer hierarchischen Einteilung der Welt. Obwohl Rousseau nicht glaubte, dass Kinder von Natur aus böse sind – er betonte sogar ihre natürliche Neigung zu Liebe und Mitgefühl -, war ihm klar, dass gerade die Sschwäche und Bedürftigkeit von Kleinkindern eine Dynamik in Gang setzen, die eine moralische Deformation und grausames Verhalten bewirken kann, wenn der Narzissmus und der Hang zum Herrschen nicht in eine produktive Richtung gelenkt werden.“

    Diese Darstellung steht jedoch im diametralen Gegensatz zu dem Menschenbild, das der sokratischen Methode und der klassischen griechischen Philosophie zugrunde liegt. Das sokratische Verständnis geht davon aus: Der Mensch ist von Natur aus ein vernünftiges Wesen, fähig zu Erkenntnis und zur Unterscheidung von Gut und Schlecht.

    Moralisches Fehlverhalten ist hier primär das Ergebnis von Unwissenheit, von Irrtümern der Vernunft – nicht einer angeborenen „Bösartigkeit“ oder eines Sündenfalls. Die sokratische Mäeutik funktioniert, weil sie davon ausgeht, dass die Wahrheit und das Gute bereits im Menschen angelegt sind und durch richtiges Denken „geboren“ werden können.

    Schuld und Scham – das Kind als Narzisst

    Dieses Menschenbild von einer kindlichen Innerlichkeit, die von Scham, einer natürlichen Neigung zum Egoismus und potenzieller „Bösartigkeit“ geprägt ist, und die Annahme, dass positive Eigenschaften wie Liebe, Empathie und die Fähigkeit zum Guten mühsam von außen anerzogen werden müssen, steht in deutlichem Kontrast zum sokratischen Verständnis.

    Stattdessen scheint Nussbaums Bild viel eher auf dem christlichen Konzept des Sündenfalls zu basieren. Dieses theologische Konzept erzählt von der Ur-Sünde, begangen durch Adam und Eva, als sie entgegen Gottes Gebot vom Baum der Erkenntnis aßen. Die Konsequenzen waren gravierend: Sie wurden mit dem Gefühl der Scham gestraft und aus dem Paradies vertrieben.

    Die Vorstellung, dass der Mensch seit diesem Zeitpunkt sündig ist, von Natur aus zu Egoismus und Fehlverhalten neigt, Scham empfindet – erinnert stark an die von Nussbaum beschriebene kindliche Natur.

    Vernunft vs. Narzissmus

    Dies führt zu einem fundamentalen Spannungsverhältnis: Nussbaum plädiert für die sokratische Methode, die ein bestimmtes, positives Menschenbild voraussetzt: der Mensch ist vernünftig und von Natur aus gut. Gleichzeitig geht sie von einem Menschenbild aus, das dieser Voraussetzung widerspricht: der Mensch ist natürlich egoistisch/narzisstisch, das Böse liegt in ihm und das Gute muss ihm mühsam beigebracht werden.

    Eine wirklich sokratische Bildung, die kritisches Hinterfragen und selbstbestimmte Erkenntnis fördern soll, ist inkompatibel mit einem Wirtschaftssystem, das auf ungleicher Bewertung und Selektion basiert, und mit Erlösungsreligionen, die auf Dogma und Autorität bauen. Diese Systeme profitieren nicht von wirklich kritisch denkenden Menschen. Nussbaum scheint diese grundlegende Inkompatibilität nicht klar zu erkennen oder die Konsequenzen für ihr eigenes pädagogisches Ideal zu ziehen.

    Fazit: Wichtige Impulse mit unbeachteten Schattenseiten

    Martha Nussbaums Buch „Nicht für den Profit – ! – Warum Demokratie Bildung braucht“ leistet einen notwendigen Beitrag zur Debatte um die Ökonomisierung der Bildung und plädiert zurecht dafür, dass der Wert der Geisteswissenschaften und des kritischen Denkens in einer Demokratie höchste Wertschätzung erfahren müsste. Ihr Einsatz für eine humanere, empathische Bildung ist absolut richtig.

    Doch die unzureichende Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, der daraus folgenden Naturzerstörung und den Dogmen der Religionen sowie der ungelöste Widerspruch in ihrem eigenen Menschenbild – das einerseits die sokratische Aufklärung lobt, aber gleichzeitig von einer eher an den Sündenfall erinnernden menschlichen Natur ausgeht – bleiben zentrale Schwachpunkte des Werkes.

    Eine humanistische Pädagogik, die wirklich zur Mündigkeit und zur Gestaltung einer besseren Welt befähigt, muss diese tiefen Widersprüche offenlegen und ein Menschenbild vertreten, das der Idee des selbstbestimmten, vernunftbegabten und gemeinschaftsfähigen Wesens treu bleibt – und die Systeme kritisieren, die diese Potenziale im Menschen unterdrücken. Das ist die Aufgabe, die wir uns stellen müssen.

    2 Gedanken zu „Nicht für den Profit? Martha Nussbaums Plädoyer für Bildung – Eine kritische Betrachtung“

    1. Liebe Sarah,
      eine sehr interessante Besprechung dieses Buches mit den Pros und Contras zu den Ausführungen der Autorin. Vor allem ist es echt eindrucksvoll, wie Du ihre eigenen Widersprüche aufdeckst. Fast unverständlich, wie sie die sokratische Mäeutik und ein humanistisches Menschenbild vertreten kann und gleichzeitig das Kind als narzisstisches, egoistisches, schamerfülltes kleines Ungeheuer ansieht.
      Ich denke, dieses Buch werde ich – nach Deiner ausführlichen Rezension – nicht mehr selbst lesen. Aber ich bin jetzt schon neugierig, welches Buch Du als nächstes – hoffentlich – analysieren wirst.
      Herzliche Grüße
      Elli

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