Hinterfrage dich – und die Gesellschaft, um zu verstehen, wo du stehst und wohin du willst
Zweifel, Ängste oder Überzeugungen, jeder Mensch kennt es: die kreisenden Gedanken, die Fragen an sich selbst, ob man das richtige Leben führt. Viele Beratungsstellen bieten Wege, sich selbst zu optimieren, das eigene Leben anpassungsfähig zu machen. Inwieweit aber wollen wir uns überhaupt anpassen?
Sind unsere Ängste vielleicht berechtigt?
Als Individuum sind wir abhängig von den gesellschaftlichen Umständen, in denen wir leben. Um zu erkennen, wo wir stehen, ist es wichtig, diese Umstände mit einzubeziehen. Es kann nicht nur darum gehen, uns zu funktionierenden Einzelwesen zu machen. Die Strukturen, die uns den Rahmen für unser Leben vorgeben, sind mitverantwortlich zu sehen.
Wir werden geprägt von den Umständen, in denen wir aufwachsen – und haben doch ein Ich, das wir entwickeln können. Die Vernunft ist unser Werkzeug, uns selbst zu überprüfen – aber auch unsere Mitmenschen und die gesellschaftlichen Strukturen, die uns umgeben. Es hilft, wenn man sich einordnen kann und versteht, warum man bestimmte Gefühle und Gedanken hat.
Ist unser Umfeld, unsere Gesellschaft, ja unsere ganze Welt überhaupt ein menschlicher Ort?
Hier verbindet die Philosophie die politische Sicht auf die ganze Gesellschaft als auch mit der psychologischen Sicht auf den Einzelnen. Wir können und müssen infrage stellen, ob wir in diesen Strukturen überhaupt glücklich sein können.
Was heißt es, Mensch zu sein?
Jeder Mensch lebt in einer besonderen Situation, in der er seinen Weg finden muss. Doch wir sind alle Menschen und das Menschsein bringt uns auf eine gemeinsame Ebene. Philosophen wie Sokrates gingen davon aus, dass die allgemeine Vernunft alle Menschen gleichberechtigt miteinander verbindet. Deshalb können wir uns gegenseitig verstehen und Lösungen finden.
Die widersprüchlichen Erwartungen von außen
Unsere Gesellschaft umgibt uns mit vielen widersprüchlichen Forderungen. Wir sollen individuell sein und doch werden wir spätestens mit dem Schulbeginn in gleiche Muster gepresst.
Als Kind lernen wir, solidarisch miteinander zu leben, in Schule und Beruf plötzlich sollen wir die Ellenbogen ausfahren und auf Kosten unserer Mitmenschen nach oben preschen. Diesen Widerspruch müssen wir uns bewusst machen, um möglichst sinnvoll damit umgehen zu können.
Was passiert gerade in unserer Gesellschaft, wo siehst du dich?
Je besser du dich verstehen kannst, je klarer die Gedanken werden, desto selbstbestimmter kannst dein Leben führen.
Eltern sein – eine völlig neue Situation
Oft glauben Menschen, als einzige ein Problem in einer Situation zu haben, während alle anderen besser klarkommen. Gerade bei Paaren, die Eltern werden und sind, gibt es völlig neue Lebensumstände, die viel Konfliktpotential in sich tragen. Meine eigenen Erfahrungen haben mir gezeigt, dass plötzlich neue Gefühle und Probleme auftreten, auf die man nicht vorbereitet ist. Neue Abhängigkeiten zeigen sich, die man vielleicht theoretisch geahnt, aber in ihrer praktischen Brisanz unterschätzt hat. Das Rollenverständnis von Vater und Mutter, Mann und Frau, bekommt nochmal eine neue Komponente, die schon vorhandene Konflikte verschärft.
Miteinander ins Gespräch kommen
Die äußerlichen Strukturen – Arbeit, Beruf, Geld, Kinder – pressen Paarbeziehungen in ein enges Korsett. Um aus festgefahrenen Streitpunkten und Tagesabläufen herauszukommen, hilft es, mit einer dritten Person zu sprechen. Gedanken und Gefühle können hier auf einer anderen Ebene reflektiert werden und neue Lösungswege werden möglich.
Philosophische Arbeit
Philosophie ist Leidenschaft, Schmerz, Glück. Selbsterkenntnis zu erarbeiten heißt sich in Frage zu stellen, das eigene Leben überprüfen. Mit seiner Erkenntnis Verantwortung zu übernehmen, ist die tägliche Auseinandersetzung mit dem Leben.
Philosophisches Gespräch
Die Hebammenkunst ist eine Gesprächsform: der Fragende hilft dem Antwortenden als Hebamme, seine Erkenntnis als sein Kind zu gebären. Dieser Dialog ist ein gemeinsamer Weg, Erkenntnis zu suchen und auch zu finden. Der Fragende durchlebt mit jedem Weg, den er mit seinem Gesprächspartner geht, auch immer seine eigenen Vorstellungen. Er muss sich auf seinen Partner einlassen, ihn nachvollziehen, aber gleichzeitig einen Gegenpart darstellen, der die Widersprüche aufzeigt. Ein solcher Dialog kann auch in der Aporie enden, also mit einem offenen Ende. Das bedeutet nicht, dass man sich nicht über andere Wege diesem Thema erneut nähern kann. Psychologisch betrachtet, kann der Mensch mit Hilfe dieser Methode sein Unbewusstes zu Bewusstsein bringen, Verwirrungen und Widersprüche aufklären.
Bewusstwerdung als Grundlage einer guten Demokratie
Eine Demokratie ist nur so gut wie die Menschen, die sie gestalten. Um die Demokratie im antiken Athen zu retten, hat Sokrates sich auf den Marktplatz gestellt und die Bürger gefragt, was sie von der Tugend halten. Im mäeutischen Gespräch konnten sie gemeinsam ihre Überzeugungen auf den Prüfstand stellen. Ist es wirklich richtig, was sie denken?
Das demokratische System gibt einer Gesellschaft die Werkzeuge, um sich Schritt für Schritt zu entwickeln. Mehrheitsentscheidungen und Kompromisse sind Ausdruck des Weges, den die Menschen gehen. Eine Mehrheitsentscheidung ist nicht Wahrheit. Trotzdem müssen Gesetze als Ausdruck des mehrheitlichen Willens akzeptiert werden.
Eine sinnvolle Form der Psychologie müsste auch die Politik einbeziehen und die Philosophie. Letztlich gehört all das zusammen. Denn die eigene Situation, so schwer sie manchmal sein mag, ist erträglicher, wenn man sieht, in welchen Strukturen man lebt. Auch wenn man die Welt nicht gleich ändern kann, so hilft es, sich klarzumachen, wie man die Welt sieht und wie sehr man auch von dieser Welt beeinflusst ist. Wichtig ist, die eigene Situation zu analysieren, damit aus diesen Erkenntnissen auch Handlungen wachsen können.
Eine Überzeugung zu haben, heißt, diese Überzeugung auch freimütig zur Debatte zu stellen und sich auf Argumente und Dialoge einzulassen. Die Aufklärer der Antike waren überzeugt, dass es eine allgemeine Vernunft gibt, die in allen Menschen angelegt ist und die jeder in sich entwickeln kann. Sollte es eine Wahrheit geben, dann können sich alle gemeinsam dieser Wahrheit annähern, je vernünftiger sie denken.
Hier liegt meines Erachtens die Schwäche der Psychologie, jedenfalls wie sie heute verstanden wird. Es geht oft nur darum, das Individuum zu sehen und es gesellschaftlich funktionstüchtig zu machen. In den 80er-Jahren hat die Psychologie sich noch mit dem Politischen beschäftigt. Das individuelle Problem wurde stets auch in den gesellschaftspolitischen Zusammenhang gebracht. Heute spielt das kaum noch eine Rolle.