Bestimmt hast du folgenden Vorwurf schonmal irgendwo gelesen oder gehört:
„Du bist ja ein [irgendwer]-Versteher!“
Egal, ob es um Politiker geht, um kontroverse Entscheidungen oder um komplexe gesellschaftliche Probleme. Wer versucht, die Ursachen zu analysieren, die Beweggründe zu verstehen, läuft Gefahr, sofort in die Ecke der Sympathisanten gestellt zu werden.
Besonders deutlich sehen wir das beim Begriff „Putin-Versteher“. Wer versucht zu analysieren, warum Putin so handelt, wie er handelt – seine Hintergründe, seine Ziele, seine Logik (so verdreht sie uns auch erscheinen mag) – wird schnell beschimpft. Der Vorwurf lautet implizit: Wer versteht, heißt gut. Wer analysiert, sympathisiert. Wer nach dem „Warum“ fragt, entschuldigt.
Doch diese Gleichsetzung von Verstehen und Billigen ist ein gefährlicher Denkfehler.
Verstehen: Nicht Zustimmung, sondern Analyse
Verstehen bedeutet nicht, das Verhalten eines Menschen oder die Entwicklung einer Situation für gut oder richtig zu halten. Es bedeutet, die Ursachen, Motivationen und Zusammenhänge zu erkennen, die zu einem bestimmten Ergebnis geführt haben.
- Warum hat jemand so gehandelt?
- Welche Glaubenssätze, Ängste, Ziele stecken dahinter?
- Welche historischen, gesellschaftlichen oder psychologischen Faktoren haben mitgespielt?
Dieses „Verstehen“ ist eine Form der Analyse. Es ist der Versuch, Klarheit in eine komplexe Realität zu bringen, die oft von Emotionen, irrationalen Entscheidungen und verborgenen Dynamiken geprägt ist.
Es ist möglich, dass wir als Menschen Handlungen von anderen Menschen nachvollziehen können, gedanklich und emotional, ohne dass wir diese für richtig halten. Wenn ich die Gründe kenne, warum ein Mensch ein Verbrechen verübt hat, wäre es möglich, dass ich sage: nachvollziehbar oder verständlich. Was in keinster Weise bedeutet, dass ich das billige oder für richtig halte oder es entschuldigen will.
Die Parallele zur Therapie: Verstehen als Weg zur Veränderung
Denk an die therapeutische Erfahrung. Wenn jemand in Therapie geht, geht es zentral darum, sich selbst zu verstehen. Warum reagiere ich in bestimmten Situationen so? Woher kommen meine Ängste, meine Muster? Dieses Verstehen bedeutet nicht, dass alles, was man in der Vergangenheit getan hat, plötzlich „okay“ war. Aber es ist der erste Schritt, zu verstehen, warum man etwas tut – und das ist wiederum der erste Schritt zur Veränderung.
Nur wenn das Unbewusste bewusst wird – wenn ich die verborgenen Gründe für mein Handeln erkenne – gewinne ich die Fähigkeit, selbstbestimmt zu entscheiden, wie ich zukünftig handeln möchte. Solange diese Gründe im Dunkeln liegen, bin ich unfrei, fremdbestimmt von Gefühlen oder Mustern, die ich nicht durchschaue.
Genauso ist es mit der Gesellschaft, mit politischen Akteuren, mit komplexen Problemen. Sie „auf die Couch legen“, ihre Geschichte und Motivationen analysieren, bedeutet nicht, ihre Handlungen zu rechtfertigen. Es bedeutet, ihre Mechanismen zu durchschauen.
Warum „Verstehen“ gerade in der Politik entscheidend ist (und kein „Verzeihen“)
Wenn wir also jemanden als „[…]Versteher“ beschimpfen, nur weil er versucht zu verstehen, warum jemand so handelt, machen wir einen Fehler. Wir verwechseln die notwendige Analyse mit der (nicht notwendigen und oft falschen) Zustimmung.
Gerade in politischen Auseinandersetzungen ist das Verstehen der Gegenseite (ihrer Motivationen, Ziele, Denkweisen, auch ihrer Schwachstellen!) essenziell, um effektiv gegen sie vorgehen zu können.
- Wenn du verstehst, warum ein autoritärer Führer so handelt, kannst du seine nächsten Schritte besser vorhersehen.
- Wenn du verstehst, welche Logik ein System antreibt (wie z.B. die Logik der Auserwählung im Kapitalismus, über die wir gesprochen haben), kannst du seine Schwachstellen erkennen.
- Wenn du verstehst, welche Ängste oder Bedürfnisse hinter bestimmten gesellschaftlichen Phänomenen stecken, kannst du adäquater reagieren.
Putin zu verstehen, bedeutet nicht, seine Taten zu billigen. Es bedeutet, seine Strategie und Motivation zu analysieren, um politisch und strategisch fundiertere Entscheidungen treffen zu können. Wer das Verstehen ablehnt, aus Angst, es könnte als Billigung missverstanden werden, verzichtet auf ein sinnvolles Werkzeug der politischen Auseinandersetzung.
Philosophie: Das Handwerk des Verstehens
Genau das ist das Herzstück der Philosophie: Verstehen lernen. Andere Menschen, die Welt, ihre Kulturen, die Geschichte, uns selbst. Philosophie ist Fähigkeit zur Analyse und zum tiefen Nachfragen nach dem „Warum“.
Dieses Verstehen ist kein Selbstzweck und keine Rechtfertigung für alles und jeden. Es ist die Grundlage dafür:
- Klarer zu wissen, was du selbst für richtig hältst.
- Deine eigenen Werte und Prinzipien fundiert zu verteidigen.
- Dich gezielt und effektiv für das einzusetzen, was du für eine bessere Welt hältst.
- Und vor allem: Human zu bleiben. Auch in der Auseinandersetzung. Denn das Verstehen, das Suchen nach den Gründen – selbst bei schockierenden Phänomenen – ist eine zutiefst humanistische Leistung. Es ist das, was uns befähigt, mit der Komplexität der Welt umzugehen, ohne in bloße Empörung oder passive Ohnmacht zu verfallen.
Lass dich nicht beschimpfen, wenn du versuchst zu verstehen. Beharre darauf: Verstehen ist nicht Billigen. Es ist die notwendige Basis für klares Urteilen, bewusstes Handeln und eine humanistische Haltung in einer komplexen Welt.
In meiner Akademie schärfen wir gemeinsam genau diese Fähigkeit: Das Handwerk des Verstehens, um die Welt, uns selbst und die großen Debatten unserer Zeit klarer zu sehen – und fundiert handeln zu können.