Warum „Reden“ hilft: die Psyche ist ein Teil des Körpers

„Aber was mache ich dann in der Psychotherapie – einfach nur reden?“

Diese Frage stellte mir eine Frau, als ich ihr aufgrund vieler Belastungen empfahl, eine Psychotherapie zu machen. Ich nenne sie Katja.

„Ich war bei so vielen Ärzten, aber keiner hat eine organische Ursache gefunden.“

Katja hat mir von ihren Schmerzen erzählt, von Taubheitsgefühlen, Rücken- und Beinproblemen und einigem mehr. Als ich weiter nachfragte, kamen viele Belastungen zutage, die sie besonders in ihrem familiären Umfeld hatte. Die Beziehungen zu den Eltern, die Paarbeziehung, Geschwister und ihre Probleme, die Kinder in der Schule. Überall musste sie Verantwortung tragen, Pflegearbeit verrichten und zurückstecken, wenn sie andere um Hilfe bat, die aber „keine Zeit hatten“.

Wenn der Partner im Haushalt selbst dann nicht wirklich hilft, wenn Katja schon mit all diesen Aufgaben überfordert ist, wenn Geschwister nicht bei der Pflege der Eltern helfen, dann wird die körperliche Belastung, aber vor allem der „mental load“, die psychischen Anforderungen, zu groß.

Doch viele Frauen verteidigen andere Menschen sofort, wie auch in diesem Fall Katja: „Mein Mann hat eben andere Vorstellungen von Sauberkeit, das muss ich dann eben akzeptieren.“ Oder: „Mein Bruder wohnt ja weiter weg, und kann sich einfach nicht so oft kümmern wie ich“.

Wenn Ärzte organisch nichts finden, kann die Psyche Ursache für körperliche Beschwerden sein

Und dann kommen die körperlichen Beschwerden, auf einmal wird Katja immer kränker, sie kommt manchmal nicht mehr aus dem Bett und nimmt immer mehr zu. Aber sie funktioniert noch. Noch kümmert sie sich um alle, geht arbeiten, macht den Hauptteil des Haushalts, ist für ihre Kinder, Geschwister und Eltern da.

Noch. Denn wenn sie sich keine psychotherapeutische Hilfe holt, könnten ihre Krankheiten schwerer werden, sie könnte eine depressive Verstimmung entwickeln und einmal nicht mehr „funktionieren“.

Bekommt Katja für ihre Arbeit Anerkennung?

Bekommt sie ein „Danke, dass du das machst, wir wissen, wie schwierig das ist.“ – vielleicht von ihrem Partner, oder von den Eltern, oder Freunden? Oder bekommt sie gar Geld für ihre Arbeit? Nein, denn diese Arbeit wird von der Gesellschaft als selbstverständlich angenommen.

Psychische Überforderung kann sich in körperlichen Symptomen äußern

Katja hat neben ihrem ganz normalen Beruf, den sie mit 30 Stunden ausübt, noch zwei weitere Jobs: die körperliche Belastung der Pflege der Angehörigen und die mentale Belastung, sich auch um die psychischen Belange der Familie zu kümmern. Umgekehrt ist niemand für sie da, sie erhält weder im organisatorischen noch im mentalen Bereich Unterstützung.

Was mir Katja erzählt hat, ist ihre persönliche Geschichte, ihre konkrete Lebenssituation. Diese Lebensumstände aber kann man als beispielhaft für die Situation vieler Frauen ansehen.

Wie kann „Reden“ helfen?

Es gibt in jeder Lebenssituation zwei Bereiche: der eine ist der persönliche Gefühlsbereich, die eigenen Erfahrungen, die Kindheit, die familiäre Situation, der Arbeitsplatz. Hier spielt mit hinein, was für die aktuelle Gefühlslage verantwortlich ist. Wo liegen die Wurzeln für die Gefühle, die uns bestimmen?

In der Psychotherapie können wir all diese Gefühle genauer betrachten, die Wurzeln für die Probleme finden, die uns aktuell belasten. Wir können über unsere Gefühle sprechen, über unsere Erfahrungen, und lernen, uns selbst zu verstehen. Warum bin ich traurig, warum angespannt, was bestimmt mich? Wie kann ich mit den Belastungen umgehen, denen ich tagtäglich ausgesetzt bin?

Psychotherapie bedeutet, seine Gefühle verstehen zu lernen

Katja schiebt ihre Gefühle noch weg, sie sucht die Ursachen für ihre Schmerzen und körperlichen Symptome im organischen Bereich. Doch die Ärzte können nichts finden. In der Therapie kann sie lernen, die wahren Ursachen zu finden, die Gründe für ihre psychischen Belastungen. Sie kann lernen, ihre Gefühle zuzulassen und erkennen, wie andere Menschen mit ihr umgehen. Auch, dass sie sich emotional besser abgrenzt und nicht alles auf sich bezieht.

Die Philosophie sieht den Menschen und die Gesellschaft

Dann aber gibt es noch den zweiten Bereich, er betrifft die Gesellschaft, in der wir leben. Letztlich die ganze Welt. Katja könnte sich fragen, warum sie als Frau überhaupt in dieser Rolle ist, sich um ihre Familie zu kümmern, aber dafür keine Anerkennung bekommt. Warum tut es ihr Bruder so wenig? Ihre persönliche Situation und die Rolle, die sie spielt, hängt von vielen gesellschaftlichen Faktoren ab, die sie sich nicht bewusst macht.

Natürlich können wir diese Umstände nicht gleich verändern, aber wir können sie hinterfragen und uns eine Haltung dazu erarbeiten. Wir können dadurch lernen, dass nicht alles unsere „Schuld“ ist. Und wir können auch versuchen, aktiv zu werden.

Philosophische Fragen sind: Warum werden Frauen diskriminiert? Warum gibt es Ungerechtigkeit? Welche Werte will ich vertreten? Wie kann ich unsere gesellschaftliche Situation verstehen? Warum muss ich eine Arbeit annehmen, die mich beschädigt? Kann ich die Welt ändern oder was kann ich tun, um sie zu ändern? Wie kann ich meine Kinder in dieser Welt unterstützen?

Um uns mit unserem Leben auseinanderzusetzen und Lösungen zu suchen, müssen wir beide Bereiche wahrnehmen. Wenn ich etwa mit meinem Arbeitsplatz unzufrieden bin, weil:

  • er schlecht bezahlt ist,
  • ich Mobbing ausgesetzt bin,
  • ich als Frau (oder anders) diskriminiert werde
  • meine Arbeit sinnlos ist
  • meine Arbeit die Natur zerstört,
  • ich Kolleg:innen schlecht behandeln muss,

dann hilft mir die Psychotherapie, meine Erfahrungen zu verarbeiten. Aber sie hilft mir nicht dabei, zu verstehen, warum ich eine solche Arbeit tun muss, warum unsere Gesellschaft solche Arbeitsplätze produziert oder wie ich herausfinden kann, was ich ändern kann. In der Psychotherapie lerne ich nicht, was Kapitalismus bedeutet und ob ich diese Strukturen für richtig halte. Und wenn nicht, was sinnvolle Alternativen wären. Und wie ich mich dafür einsetzen kann.

Heilung bedeutet, sich selbst und die Welt verstehen zu lernen – und aktiv zu werden

Wer sich selbst wirklich verstehen und die eigene Situation reflektieren will, braucht dazu ein Verständnis für die eigene Psyche und das Verhältnis zu seiner Umwelt. Der Mensch ist Teil des großen Ganzen, kein abgespaltenes Subjekt, das keine Beziehung zur Welt hat. Wichtig ist, herauszuarbeiten, welche Werte man vertritt und ob man sich für die Veränderung der Umstände einsetzen will, die einen belasten.

Dieser Prozess benötigt Zeit und Geduld.

Ob Katja den Weg zur Psychotherapie findet, ist noch nicht klar, sie wirkt skeptisch. Ich drücke ihr die Daumen, dass sie die Kraft findet, ihre Schritte zu gehen, um sich weiterzuentwickeln.

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