Unser Bildungssystem ist antiphilosophisch

Stell dir vor, du machst eine Psychotherapie und sprichst über deine größten Probleme. Plötzlich sagt dein Therapeut: „Das war jetzt aber nicht gut, wie Sie ihr Problem geschildert haben, dafür bekommen Sie eine sechs.“ Wie absurd wäre das? Und genauso ist es in der Philosophie.

Jeder Mensch beginnt zu philosophieren, wenn er zu denken beginnt. Wenn er beginnt, Fragen zu stellen. Dabei darf es kein Tabu geben, es muss erlaubt sein, alles in Frage zu stellen, was einen bewegt. Und in diesem Prozess gibt es auch keine Bewertung des Denk- und Erkenntnisprozesses. Keine Autorität darf hier befugt sein, mit Noten Menschen zu be- und verurteilen, die nicht „richtig“ denken. Oder die „zu lange“ für die richtige Erkenntnis benötigen.

Angst verhindert freies Denken

Vor allem verursachen Noten etwas, das der größte Feind des freien Denkens ist: Angst. Druck und Angst sind die Gegner eines Prozesses, der bei jedem Menschen seine Zeit benötigt. Wie lange ein Denkprozess dauert – das darf nur die Person bestimmen, die diesen Prozess durchmacht.

Zum selbstbestimmten Denken gehört es grundsätzlich dazu, andere Menschen und besonders Autoritäten zu hinterfragen. Jede Autorität muss es sich gefallen lassen, kritisch überprüft zu werden und hat kein Recht, mit Macht diese Überprüfung zu verhindern. Eine gute Autorität ist sogar selbst interessiert daran, dass sie kritisch hinterfragt wird.

Macht ist der Feind der Freiheit

In einer Institution wie Schule oder Universität müsste es Teil des philosophischen Prozesses sein, die lehrende Autorität und das ganze System zu kritisieren, ohne dass der Lernende Angst haben muss, dafür mit schlechten Bewertungen bestraft zu werden. Wer stets in Angst vor schlechten Zensuren leben muss, ist gehemmt zu denken und zu lernen.

Bei der Suche nach Erkenntnis geht jeder Mensch seinen eigenen Weg, denn jede Lebenssituation ist absolut individuell. Ob als Erwachsener in einer Universität oder als Kind in der Schule, ein Individuum muss die Freiheit haben, seine eigene Geschwindigkeit und seine eigene Form des Lernens und der Wahrheitssuche wählen zu dürfen.

Prüfungen und Tests

Anspannung beim Lernen, oder Bauchschmerzen vor dem Tag der Prüfung? Angstschweiß und Herzrasen beim Test, bei der mündlichen Prüfung? Selbst gute Schülerinnen und Schüler sind davor nicht geschützt. Wer oft schlechte Noten schreibt, resigniert und stumpft ab. Kinder, davon geht unser Bildungskonzept aus, lernen nur unter Zwang. Ohne Dauerdruck durch die drohenden Noten sind Kinder nicht bereit zu lernen.

Angst und Druck sind der Tod des philosophischen Eros

Die Basis unseres Bildungssystems ist ein Menschenbild, das den Menschen als faul und desinteressiert, also als von Geburt an schlecht, ansieht. Zu Beginn des deutschen Schulsystems waren die Lehrenden ehemalige Soldaten, die den Kinder Zucht und Ordnung beibringen sollten. Dafür waren Drill und Gewalt nicht nur erlaubt, sondern geboten. Körperliche Gewalt ist heute zwar nicht mehr erlaubt, aber das System der Macht und psychischen Gewalt ist geblieben.

Unser Bildungssystem lehrt keine Demokratie

Demokratie heißt, Menschen verwalten sich selbst. Diese Selbstbestimmung muss man lernen. Kitas, Schulen und Hochschulen müssten die Pflicht haben, Demokratie in Theorie und Praxis zu lehren. Das Gegenteil aber geschieht. Machtstrukturen verhindern, dass selbstbewusste Kinder heranwachsen können, die selbst bestimmen, was und wie sie lernen wollen. Die in demokratischen Strukturen lernen, soziale Verantwortung zu tragen und aktive Mitbestimmung zu leben.

Unser Schulsystem geht davon aus, dass es wenige auserwählte Kinder gibt, die entweder genetisch bestimmte Genies sind oder aus entsprechenden gesellschaftlichen Schichten kommen. Diese werden von unserem selektiven Schulsystem herausgefiltert, um nach oben zu kommen bzw. dank familiärer Herkunft oben zu bleiben. In Deutschland ist die gläserne Decke europaweit am stärksten. Aus der sozialen Schicht, aus der du kommst, kommst du nicht heraus.

Kinder lernen leidenschaftlich und gerne

Kinder lernen von Natur aus gerne, ja sie tun den ganzen Tag nichts anderes. Völlig freiwillig und ohne Zwang. Ein kleines Kind lernt bereits eine ganze Sprache, manchmal sogar mehrere. Dafür spricht es fleißig die Worte der Erwachsenen nach und lernt Aussprache und Bedeutung. Kinder lernen die Welt kennen, und das tun sie mit fröhlicher Neugier – wenn man es ihnen erlaubt. Ich bezeichne Schulen gerne als Lern-Verhinderungs-Systeme. Denn sobald Kinder etwas in der Schule lernen müssen, hören sie auf, zu lernen. Sie hören auf, leidenschaftlich zu sein. Sie beginnen, zu resignieren.

Erst lernen Kinder zu sprechen und sich zu bewegen, dann still zu sitzen und die Klappe zu halten.

Eine Volksweisheit

Dieser bekannte Spruch ist leider wahr. Erwachsene beschweren sich gern darüber, dass Kinder sich nicht mehr lange auf etwas konzentrieren könnten, ständig abgelenkt wären und sich nicht mehr interessieren. Aber genau das „lernen“ sie in der Schule. Nach fünfundvierzig Minuten werden sie rüde herausgerissen aus ihrem Lernfluss, müssen sich innerhalb von Minuten auf etwas völlig anderes einlassen. Die Fächer sind getrennt und niemand lernt, wie alles miteinander zusammenhängt.

Philosophie ist der ganzheitliche Blick auf die Welt

Das Gegenteil aller dieser schulischen Strukturen ist der philosophische Eros. Die alten Griechen gingen davon aus, dass die Liebe zum Lernen im Menschen von Geburt an angelegt ist, durch das Lernen reift die Vernunft, die jeder Mensch in sich entfalten kann. Die Gleichheit der Menschen beruht auf diesem Menschenbild, denn alle Menschen haben diese allgemeine Vernunft in sich.

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